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Samstag, 1. März 2014

Hermann Samuel Reimarus  

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* 22. Dezember 1694 in Hamburg

† 1. März 1768 ebenda

Deutscher Gymnasialprofessor in Hamburg, Wegbereiter der Bibelkritik. Er wurde posthum bekannt für seine von Gotthold Ephraim Lessing in Teilen veröffentlichte "Apologie", mit der er die "natürliche Religion" gegen die "Zumutungen eines biblischen Glaubens" mit seinem Festhalten an einer übernatürlichen Offenbarung und Wundern verteidigen wollte. Die Veröffentlichung der Reimarus-Fragmente durch Lessing verursachte den sogenannten "Fragmentenstreit"
, die wohl größte theologische Kontroverse im Deutschland des 18. Jahrhunderts.

Reimarus war das erste Kind des Lehrers Nicolaus Reimarus und seiner Frau Johanna Wetken, Tochter aus einer der ersten Familien der Stadt. Seine früheste Erziehung erfolgte nach der damaligen Sitte eines lutherischen Haushaltes. Seine formelle Erziehung begann mit seiner Einschulung in das Hamburger Johanneum, wo sein Vater unterrichtete. Später hörte der junge Reimarus nach einem Wechsel auf das akademische Gymnasium Vorlesungen von bedeutenden Philologen wie Johann Christoph Wolf .  

1714 immatrikulierte sich Reimarus an der Universität Jena. Ursprünglich von seinen Eltern für das Predigeramt bestimmt, hatte Reimarus sein Interesse inzwischen auf die Philosophie und die Philologie verlagert. Reimarus’
Lehrer in Jena waren der Polyhistoriker Franz Budde
, ein Schüler des
großen Thomasius
, und Johann Matthias Gesner , ein bekannter Philologe. 1716 wechselte Reimarus nach Wittenberg, wo er sogleich die
Magisterwürde erlang. 1719 promovierte er mit einer Arbeit 'De
Machiavellismo ante Machiavellum'. 

 

Nach damaliger Sitte schloss sich nunmehr eine Auslandsreise nach Holland und England an. In England nahm er die Diskussion über den Deismus wahr. 1722 kehrte er nach Wittenberg zurück und bewarb sich erfolgreich um die Rektorenstelle an der Stadtschule in Wismar . Dort blieb er fünf Jahre. Er reformierte den Unterricht im Sinne einer wissenschaftlichen Pädagogik.

1727 eröffnete sich Reimarus die Möglichkeit, nach Hamburg zurückzukehren, als dort die Professur für orientalische Sprache am gelehrten Gymnasium frei wurde. Er bewarb sich mit Erfolg. Im Sommer 1728 hielt er seine Antrittsrede. Reimarus behielt dieses Amt bis zu seinem Tode im Jahre 1768. Sein Amt verpflichtete ihn, dreimal wöchentlich eine Vorlesung, zumeist über Probleme der hebräischen Philologie, zu halten, sowie gelegentlich Nachrufe auf verstorbene Stadtpersönlichkeiten zu verfassen. Reimarus’ hatte auch Vorlesungen über die Bibelinterpretation zu geben. 


Als Professor genoss Reimarus ein hohes Ansehen in der Stadt, das er
durch seine Kontakte zu führenden Familien ausbaute. Verschwägert oder verwandt mit vielen dieser Familien, festigte Reimarus seine Position durch die Heirat mit Johanna Friederike Fabricius, Tochter seines Lehrers. Von den sieben Kindern der Familie erreichten nur der älteste Sohn Johann Albert Hinrich Reimarus und die Tochter Katharina Elisabeth Reimarus, genannt Elise, das Erwachsenenalter.

 

Dass unter dieser glatten Oberfläche eine zunehmend radikalere Auseinandersetzung mit seinem von der Theologie und der Kirche beherrschten Umfeld durchlebt wurden, ging erst aus seiner erst nach seinem Tode veröffentlichten 'APOLOGIE oder Schutzschrift' hervor. Reimarus nahm mit dem Dichter Barthold Hinrich Brockes freundlichen Kontakt auf. Dieser Sohn einer alten Hamburger Familie hatte bei Thomasius Jura studiert. Nach seiner Heimkehr betätigte er sich in der Stadtpolitik, wobei er es zur
Senatorwürde brachte. Brockes verfasste ins Geheim – ähnlich wie
Reimarus – ein die kirchliche Theologie kritisches Manuskript, das in einer
dichterischen Form dieselbe Grundanschauung wie die Schrift des
Reimarus vermittelt.
 
Der Schulmann Reimarus genoss nicht nur in Hamburg hohes Ansehen.
Nach 1740 veröffentlichte er neben angesehenen philologischen Arbeiten
eine Reihe von Schriften, die seinen Ruf als Popularphilosoph verankerte. Hierzu gehörten die 'Vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion' , eine 'Vernunftlehre' und die 'Triebe der Thiere. Als Gottes Schöpfung müsste die Welt von Ihm und Seiner Weisheit und Allmacht kundtun, sofern die Menschen lernten, sie zu enträtseln. Vorausgesetzt wurde im großen
Konsens der Theologen, dass sich die „Weltweisheit“ und die direkte
Inspiration Gottes – in den heiligen Schriften zusammengefasst – nicht
widersprechen. Orthodoxe Pastoren und Theologen beobachteten mit Argusaugen die rasante Entwicklung des Büchermarktes im 18. Jahrhundert. Freidenker wurden häufig als verkappte Juden gescholten und bekamen den Verfolgungsgeist der kirchlichen und weltlichen Obrigkeiten zu spüren. 

Auch Reimarus setzte sich – insgeheim – schrittweise von der Auffassung 
ab, dass eine durch die Vernunft begründete, der Menschenwürde
angemessene Lebensgrundlage mit der christlichen Offenbarung in
Einklang zu bringen sei. Sein Lebenswerk, das erst in der Endfassung den
Titel 'Die APOLOGIE oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer
Gottes' erhielt, war ein Meisterwerk der deutschen Aufklärung. Auf über 700 Manuskriptseiten setzte sich Reimarus mit dem Hauptwerk der christlichen Offenbarung, der Bibel, auseinander und stellte stets die Frage: Was ist an ihr wahr. Sein Maßstab war die gesunde Vernunft. Das Ergebnis war: Von dem Anspruch der Bibel, das Wort Gottes zu sein, ist so gut wie nichts übriggeblieben.
 
Zwischen 1740 und 1760 löste Reimarus die unverdächtigen Teile aus seinem Gesamtwerk und veröffentlichte sie. Die eigentliche Bibelkritik behielt er für sich, entwickelte sie weiter und diskutierte diese Fragen im engsten Freundeskreis. Er hatte nicht die Absicht, seine Arbeit vollständig zu veröffentlichen. Er schrieb es – wie er vorgab – für die eigene „Gemüths-
Beruhigung“. Vermutlich schmerzte es den angesehenen Professor wohl dennoch, dass er seine vernünftigen Zweifel nicht öffentlich vortragen konnte. 

  
Tatsächlich hielt Reimarus sein Werk aus Angst vor dem Verlust seiner bürgerlichen Existenz zurück. Dafür hätten die lutherischen Prediger gesorgt, und es gab Präzedenzfälle. Seit der Einführung der Reformation 1529 bildeten die Kirchspiele – zunächst vier und nach 1678 mit St. Michaelis fünf – auch den politischen Rahmen der Stadt. Die Mitglieder der bürgerlichen Kollegien wurden aus den Kirchenkollegien rekrutiert. Nur Lutheraner galten als vollberechtigte Bürger. Die Kirche und ihre Prediger hatten einen enormen Einfluss in der Öffentlichkeit. Es war das einzige öffentlich-rechtlich sanktionierte Glaubenssystem in der Stadt. 

 

In Hamburg fanden mehr als 60 Predigten wöchentlich statt. Themen waren nicht vorrangig theologische Probleme, vielmehr wurden alle Aspekte des bürgerlichen Lebens erfasst und kommentiert. Im 17. und 18. Jahrhundert erwarben sich mehrere Hamburger Geistliche den Ruf, besonders wirksame Verfechter der lutherischen Orthodoxie zu sein. Es ging den Orthodoxen – wie Johann Melchior Goeze – darum, die Stellung der Kirche als Garant gesellschaftlicher Normen politisch abzusichern.  


Es gab jedoch auch daneben einen anderen Raum mit neuen gesellschaftlichen Formen. Kaffeehäuser und literarische Zirkel kamen auf, man publizierte und las Moralische Wochenschriften, wie in England. Das neue Wertesystem hieß: „Patriotismus“. Es ging den frühen Hamburger aufgeklärten Patrioten darum, dem Gemeinwesen zu dienen, es zu stärken und das Alltagsleben vernünftiger, zu gestalten. Aus diesem Zirkel war Reimarus hervorgegangen. Man vermied in diesen Kreisen allerdings den direkten Konflikt mit der Kirche. Die Hamburger 'Patrioten', also die führenden Schichten Hamburgs, hatten kein Interesse daran, eine Lage entstehen zu lassen, in der sich unkontrolliert eine Stimmung gegen ihre Vorrangstellung entwickeln könnte. In dieser Hinsicht stimmten sie mit den orthodoxen lutherischen Geistlichen überein.  


Es gelang der Patriotischen Gesellschaft von 1765, konkrete Maßnahmen wie
Pockenimpfung, Blitzableiter, Armenpflege, Straßenbeleuchtung,
Lebensversicherung und dergleichen mehr in der Stadt umzusetzen. Die
Forderung des Reimarus’ in seinen 'Vornehmsten Wahrheiten der
natürlichen Religion', die Welt zum Wohle der Lebendigen zu nutzen,
fand sich in der patriotischen Aufklärung bestätigt. Ein konservatives Reformprogramm also „von oben“.

 

Reimarus führte in Hamburg ein gemächliches Leben. Er besaß ein Haus
mit Garten, so dass er seine Freizeit mit Blumenzüchten verbringen
konnte. Er vermochte es, seinem einzigen erwachsenen Sohn, Johann
Albert Hinrich, ein Studium in Göttingen, eine Auslandsreise und ein gute
Heirat zu finanzieren. Eine repräsentative und oft genutzte Bibliothek von
6.000 Bänden schmückte seine Studierstube. Reimarus pflegte sich häufig in den Hamburger Vororten, und zwar in den großen Garten seiner vermögenden
Freunde, aufzuhalten. Knapp zehn Tage vor seinem Tod lud Reimarus seine Freunde ein und erklärte ihnen, dies sei sein Abschiedsmahl.

 

Gotthold Ephraim Lessing erhielt das Manuskript vom Sohn und der ältesten Tochter  des 1768 verstorbenen Professors Reimarus unter der Bedingung, dass die Anonymität des Verfassers gewahrt bliebe, und nahm es mit nach Wolfenbüttel, als er 1770 die dortige Bibliothekarstelle antrat. Für den Dramatiker Lessing mit seinem unsteten Leben stellte sich im Gegensatz zu Reimarus die Sinnfrage in einem gesellschaftlichen Kontext, den es zu ändern galt. Als Bibliothekar gab Lessing ab 1773 die Zeitschrift „Zur Geschichte und Litteratur. Aus den Schätzen der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel“ heraus, für die er Zensurfreiheit genoss. Darin veröffentlichte er zwischen 1774 und 1778 sieben der ihm zugänglichen Passagen aus Reimarus' „Apologie“ in mehreren Beiträgen unter dem Titel „Fragmente eines Ungenannten“.

  
Besonders der vierte Beitrag von 1777 rief starke Reaktionen hervor. Allein 1777/78 erschienen 30 Gegenschriften gegen die „Fragmente“. Lessing wurde für den Inhalt der Fragmente verantwortlich gemacht, obwohl er die darin vertretenen Positionen nur teilweise teilte und die Publikation der Fragmente mit eigenen Einwänden und Gegenentwürfen begleitete. Lessings Hauptgegner in dem Streit war der Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze, gegen den Lessing 1778 15 Schriften, u. a. elf „Anti-Goeze“-Artikel veröffentlichte. 1778 wurde Lessing vom Herzog
die Zensurfreiheit für die „Beiträge“ aberkannt; gleichzeitig erhielt er ein generelles Publikationsverbot für das Gebiet der Religion. Er setzte die Diskussion danach mit dem Drama 'Nathan der Weise' auf dem Gebiet der Literatur fort. Erst 1813 wurde die „Apologie“ als Gesamtwerk bekannt und Reimarus als der wahre Verfasser nachgewiesen. Die erste vollständige Ausgabe erschien allerdings erst 1972 im Druck.


Weitere Infos:  

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Albert Schweitzer über Reimarus

Von der Großartigkeit der Darstellung in dem Fragment "Vom Zwecke Jesu und seiner Jünger" kann man nicht genug sagen. Diese Schrift ist nicht nur eines der größten Ereignisse in der Geschichte des kritischen Geistes, sondern zugleich ein Meisterwerk der Weltliteratur. Die Sprache ist für gewöhnlich knapp und trocken, epigrammatisch scharf, wie die eines Mannes, der nicht schreibt, sondern auf Tatsachen ausgeht. Zuzeiten aber erhebt sie sich zu wahrhaft pathetischer Höhe. Es ist, als ob das Feuer eines Vulkans gespenstische Bilder auf dunkeln Wolken malte. Selten war ein Haß so beredt, selten ein Hohn so großartig; selten aber auch ein Werk in dem berechtigten Bewußtsein einer so absoluten Superiorität über die zeitgenössischen Anschauungen geschrieben. Und in allem dennoch Ernst und Würde. Des Reimarus Werk ist kein Pamphlet.

Wie er keine Vorläufer hatte, so hatte er auch keine Schüler. Sein Werk gehört zu jenen einzig großen Werken, die spurlos vorübergehen, weil sie zu früh gekommen, deren die späteren Generationen nur in bewundernder, nicht in dankbarer Gerechtigkeit gedenken.

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